Im Deutschlandfunk am 23.9.22 erzählt Norbert Lammert (ehemaliger Bundestagspräsident) „in der Aufklärung gewachsene und durchgesetzte Einsicht, dass wir die Wahrheit nicht erkennen können.“ … Sinngemäß weiter: „… und also müssen wir Entscheidungen nach Mehrheiten fällen. Entscheidungen, die ihren Geltungsanspruch dann auch nur aus Mehrheiten beziehen, nicht aber aus einem Wahrheitsanspruch. Das erreichen einer Mehrheit ist kein Beleg für die Richtigkeit einer Entscheidung. Der Konflikt ist der Normalfall in einer Demokratie, in der verschiedene Interessen die Debatte bestimmen und nicht etwa eine zu findende Wahrheit.“ Weiter geht es ihm um das … Urteilsvermögen einer Gesellschaft.
Mich hat dieser Beitrag sehr beschäftigt. In meinen intuitiven Verständnis bedeutet „Demokratie“ dass die Executive zum Wohle der jeweiligen Gesellschaft (dem „Demos“) handeln soll. Im Demokratieverständniss von Herrn Lammert geht es nur darum parlamentarische Mehrheiten zu finden. Das Urteilsvermögen des Parlamentes wird aber durch verschiedene Faktoren so dermaßen verzerrt, das Zweifel an der Funktionsfähigkeit dieser Regierungsform angebracht sind. Ein aktuelles Beispiel ist die Frage der Waffenlieferungen für den Ukrainekrieg. Obwohl ca. die Hälfte der Bevölkerung gegen die Lieferung schwerer Waffen in das Krisengebiet ist, sind ca. 80% der Leitmedien für die Lieferung schwerer Waffen. Da das Urteilsvermögen der Parlamentarier (im Sinne von Mehrheitbildung) aber mehr der faktischen Meinungsmacht der Medien unterliegt, als dem Volk, verschieben sich die Entscheidungen richtung Militarismus, ganz entgegen einem intuitiven Demokratie-Verständnis. Bezüglich Umeltschutz und Klimawandel ist das Demokratieverständnis von Herrn Lammert noch problematischer. Bezüglich Klimawandel gibt es nämlich unbestreitbare Wahrheiten, die bei dieser Art Demokratieverständnis ignoriert werden (müssen), weil die Interessen der Meinungsmächtigen (also der Reichen) vorgehen.
Eine Mehrheits-Demokratie kann nur Funktionieren im Rahmen einer Gesellschaft, die einen inneren Zusammenhalt hat. Schon in kleineren Gruppen sollten Mehrheiten nur reversible Entscheidungen treffen. Grundsätzliches sollte in einem weitergehenden Konsens entschieden werden. Und Grundsätzlich kann eine Gruppe nicht über andere (außerhalb der Gruppe) entscheiden.
Hier sind dem Parlamentarismus (meines Wissen) auch staats- und verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, die aber von Seiten der Vertreter einer kapitalistischen Ideologie systematisch ausgehölt werden. In den letzten 50 Jahren war die CDU von Herrn Lammert nicht nur meist gegen Umweltschutz und für Militarismus, sondern sie hat auch dafür gesorgt, dass die Vermögensverteilung seit 50 jahren immer in Richtung der Reichen verschoben wurde. Auf eine relativen Ebene ist Herr Lammert nur mein politischer Gegner, aber auf einer höheren Ebene taucht die Frage auf, wer demokratisch im Sinne des Volkes denkt und wer unsere verfassungsmäßig Ordnung beschädigt?
Eine strukturelle Korrektur der Fehlentwicklungen kann in mehr direkter Demokratie liegen (mehr Volksabstimmungen), wie sie unsere Verfassung vorsieht, aber von Herrn Lammert und den etablierten Parteien ignoriert wird. Eine weitere strukturelle Korrektur wäre die Vermögensschere zu verkleinern. Eine Umverteilung von oben nach unten wäre zwar in der Bevölkerung mehrheitsfähig, aber nicht im Parlament (mit den Lobby-Abhängigkeiten). Vermögenssteuer für Reiche würde helfen, den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft wieder zu verbessern.